"Handwerk gibt Würde, Selbstbewusstsein und Zukunft"

Deutsche Missionarin weist den Armen in Chile einen Weg aus dem Elend

Schwester Karolines Stimme wird gehört in Chile. Auch von der Regierung. Wenn die Schwester eine Audienz beim ehemaligen Staatspräsidenten Ricardo Lagos wünschte oder bei Präsidentin Bachelet, bekommt sie diese. "Ich weiß", sagt sie, "dass ich für ihn eine Stimme der Armen bin oder 'Erdung', wie er es einmal genannt hat." Manche sehen in Schwester Karoline Mayer-Hofbeck eine chilenische Mutter Teresa. Seit über 40 Jahren lebt die kleine, quirlige Missionarin aus dem bayerischen Eichstätt in einem Armenviertel der Hauptstadt Santiago. Sie hat dort nach dem Ende der Pinochet-Diktatur die "Fundación Cristo Vive" ins Leben gerufen, ein Sozialwerk, das Kin-dertagesstätten, Gesundheitszentren, ein Rehabilitationszentrum für Drogenkranke und mehrere Berufsschulen unterhält. Rund 300 fest angestellte und zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter kümmern sich um die Gesundheit und Berufsausbildung von rund 28.000 Menschen, armen Menschen.

Obwohl Chile in den vergangenen 15 Jahren ein reales Wirtschaftswachstum von 90 Prozent erlebt hat und die Mehrheit der Bevölkerung in einem bisher nicht gekannten materiellen Wohlstand lebt, geht es den Menschen in den Elendsvierteln kaum besser. Chile zählt zu den zehn Ländern in der Welt, in denen der Abstand zwischen Arm und Reich am größten ist. Rund zehn Prozent der 15,6 Millionen Einwohner Chi-les müssen mit durchschnittlich 178 Euro im Monat auskommen. Und die Hälfte der Jugendlichen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten ist ohne Arbeit.

"Die Entwicklung und der Fortschritt unseres Landes haben das Leid des Volkes nicht gemindert", sagte Schwester Karoline dem Präsidenten. "Das gegenwärtige Gesellschaftsmodell hat sich vom traditionellen abgekoppelt und fördert eine ichbezogene Konsumhaltung, von der die Massen des Volkes sich das Glück versprechen. Doch dieses Glück bleibt für die Armen eine Utopie." Und sie wies den Präsidenten darauf hin, dass es bei den Armen Wut, Frustration, Ressentiments und Hoffnungs-losigkeit auslöst, wenn sie dauernd mit dem materiellen Wohlstand der Mehrheit des Landes konfrontiert werden. "Die Folgen kennen wir: Drogenabhängigkeit, Alkoho-lismus, Verbrechen und Gewalt unter Familienangehörigen."

Schwester Karoline versucht seit Jahrzehnten mit finanziellen Mitteln aus Deutsch-land, Luxemburg und der Schweiz den Armen zu einem Weg aus dem Elend zu ver-helfen. Ein 2002 in Würzburg gegründeter Verein "Cristo Vive Europa - Partner La-teinamerikas e.V." bündelt die Aktivitäten der Unterstützergruppen in diesen drei Ländern. Nun fordert die Missionarin den Präsidenten in einem Brief zu einem stärke-ren Engagement des chilenischen Staates bei der Überwindung der Armut auf: "Es ist unsere Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass unsere finanziellen Träger in Europa uns gewarnt haben vor der abnehmenden bis möglicherweise gänzlich schwindenden Hilfsbereitschaft in den nächsten Jahren, da Chile in Anbetracht seines wirtschaftli-chen Aufstiegs als kompetent genug angesehen wird, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen."

Einen möglichen Weg aus der Armut sieht Schwester Karoline in der Ausbildung für einen handwerklichen Beruf. "Für eine große Anzahl der jungen Leute aus den Ar-menvierteln, die heute auf der Straße stehen, der Kriminalität und den Drogen aus-gesetzt sind, wäre das eine große Chance, einen Platz in der Arbeitswelt und damit in der chilenischen Gesellschaft zu finden." Die Fundación Cristo Vive geht diesen Weg seit langem mit ihren Berufsausbildungszentren. In der Handwerkerschule "Clo-tario Blest", die nach dem Modell der deutschen Berufsfachschule konzipiert ist, er-lernen jährlich über 600 mittellose Jugendliche das Handwerk des Mechanikers, Schweißers, Installateurs, Bau- und Möbelschreiners, des Zimmermanns, Gärtners oder Elektrikers. "Handwerk gibt Würde, Selbstbewusstsein und Zukunft", ist Schwester Karoline überzeugt.

Immerhin ist es der Fundación Cristo Vive schon vor Jahren gelungen, im Parlament ein Gesetz durchzusetzen, das bestimmt, dass der Staat die Handwerkerausbildung mittelloser Jugendlicher finanzieren muss. Unter Ricardo Lagos sind jedoch die Mittel hierfür spärlicher geflossen, was die Stiftung in große Schwierigkeiten gebracht hat. "Unser Ziel ist es deshalb", sagt Schwester Karoline, "langfristig in der chilenischen Gesellschaft ein Bewusstsein vom Wert und der Wichtigkeit einer staatlich anerkann-ten Handwerkerausbildung zu wecken." Sie setzt dabei auf die Präsidentschaftskan-didatin Michelle Bachelet (53). Sie ist die Tochter eines Luftwaffengenerals, der sich nach dem Sturz Salvador Allendes 1973 nicht auf die Seite von Augusto Pinochet geschlagen hat und deshalb von den Putschisten eingesperrt und ermordet worden ist. Die Kinderärztin Michelle Batchelet war zuerst Gesundheits- und dann Verteidi-gungsministerin in der Regierung Lagos - als erste Frau in diesem Amt in ganz La-teinamerika. Während der Diktatur hat sie im Exil in Australien gelebt. Ihr werden die meisten Chancen eingeräumt, im Dezember die Nachfolge von Ricardo Lagos anzu-treten.

Bei einem Referat im chilenischen Parlament konnte Schwester Karoline der Präsi-dentschaftskandidatin ihr Anliegen vortragen: "Die handwerkliche Ausbildung wird in unserem Lande nicht als Beruf und noch weniger mit einem Titel anerkannt und überlässt die Ausgebildeten ihrem Schicksal - völlig auf sich allein gestellt, gezwungen etwas zu suchen", sagte sie. Und sie bat Batchelet, sich dafür einzusetzen, dass die Ausbildung staatlich geregelt und mit einem entsprechenden Titel anerkannt wird. Dabei kommt es ihr besonders darauf an, dass neben dem Arbeitsministerium auch das Erziehungsministerium mit einbezogen wird, um feste Ausbildungspläne zu erstellen und die Ausbildung zu approbieren.

Der unermüdliche Einsatz von Schwester Karoline Mayer für die Beseitigung der Armut in Chile ist bereits vielfach gewürdigt worden. In Deutschland erhielt sie1994 den Shalompreis der Katholischen Universität Eichstätt, 2001 den mit 25.000 Euro dotierten Augustin-Bea-Preis der Stiftung Humanum, den vor ihr unter anderem die Kardinäle Frings und Ratzinger und der Generalsekretär des Weltkirchenrats Willem A. Vissert 'Hooft erhalten haben. Zuletzt bekam sie in diesem Jahr die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Der chilenische Staat hat ihr die höchste Aus-zeichnung, die es für Ausländer gibt, verliehen, die chilenische Staatsbürgerschaft ehrenhalber.

Aber ihr Einsatz geht längst über Chile hinaus. Seit 1999 kümmert sich die Fundación Cristo Vive in Bolivien um die Betreuung von Gefangenen in den Gefängnissen von Cochabamba, um die medizinische Versorgung in zwei Gesundheitszentren und in mehreren Dörfern der Hochandenregion, um den Unterhalt eines Schülerwohnheims mit 104 Buben und Mädchen, um die soziale Entwicklung eines Indianerstammes und um den Bau eines Zentrums für Behinderte.

Seit September 2003 ist auch in Peru eine Stiftung Cristo Vive im Aufbau. Die erste Sorge gilt dort der Arbeit mit Mädchen und Frauen, die unter sexuellem Missbrauch oder Gewalt leiden. Zur Zeit werden 32 Frauen in dem Zentrum SONQO WASI (in der Quetchua-Sprache "Herz-Haus") psychologisch, medizinisch und juristisch bera-ten und betreut.

Im Frühsommer dieses Jahres war Schwester Karoline in Deutschland. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover und bei zahlreichen Veranstaltungen in ganz Deutschland hat sie leidenschaftlich um Solidarität mit den Armen in Lateinamerika geworben und den Menschen ihre Erfahrung mitgeteilt, die sie auch der chilenischen Präsidentschaftskandidatin vorgetragen hat: "Wenn wir anderen beistehen, beson-ders den Allerärmsten, spüren wir, dass es uns selbst gut tut - Solidarität wird zu persönlicher und gemeinschaftlicher Freude."

Karl Grüner

Infokasten:

Die Stiftung Cristo Vive in Chile betreut und verpflegt mehr als 700 Kinder aus ver-schiedenen Armenvierteln Santiagos in Kinderkrippen und Kindertagesstätten. Sie bildet jährlich 800 Jugendliche in zwei Berufsausbildungszentren aus. Sie kümmert sich um die medizinische Versorgung von mehr als 23.000 Menschen in einem familienorientierten Gesundheitszentrum, einer Poliklinik und einem Rehabilitationszent-rum für 45 jugendliche Drogen- und Alkoholabhängige. Außerdem unterstützt und begleitet sie Menschen in extremer Armut durch verschiedene andere soziale Dienste.

Mitarbeit in der Stiftung von Schwester Karoline Mayer:

- JungeMenschen nach dem Schulabschluss können für mindestens ein Jahr in der Fundación Cristo Vive in Chile als Freiwillige unentgeltlich mitarbeiten.
- Frauen und Männer mit abgeschlossener Berufsausbildung können auf ihrem Fachgebiet eingesetzt werden, auch längerfristig
- Studierende haben die Gelegenheit für ein Praktikum oder Anerkennungsjahr.
- Es besteht auch die Möglichkeit, dort den Zivildienst ("Anderer Dienst im Ausland") abzuleisten. Dieser ist in Deutschland nach § 14 b des Zivildienstgesetzes als Zivil-dienstersatz anerkannt. Die "Zivis" müssen jedoch für alle Kosten, also auch Versi-cherungsschutz, Renten- und Pflegeversicherung selber aufkommen. Der Dienst dauert 13 Monate.

Nähere Informationen bei dem Verein "Cristo Vive Europa - Partner Lateinamerikas e.V.", Lusthof 15, 24376 Kappeln.

Spendenkonto: 70068, Raiffeisenbank/Volksbank Manching (BLZ: 721 628 26)

www.cristovive.de oder www.fundacioncristovive.cl


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