Faszinierende Bilder aus 600 Metern Höhe

Es ist immer überraschend und aufregend, die gewohnte Umgebung aus einer ungewohnten Perspektive wahrzunehmen. In einem neuen Bildband des Tübinger Silberburg-Verlags ist die Region Stuttgart aus der Vogelperspektive zu sehen.

Der Fotograf Manfred Grohe hat die meist ganzseitigen oder sogar doppelseitigen Farbfotos aus einer Flughöhe von rund 600 Metern und bei einer Fluggeschwindigkeit von 150 Stundenkilometern aufgenommen. Bei rund 25 Flügen innerhalb der letzten zwölf Monate mit drei Piloten, die seit vielen Jahren mit ihm zusammenarbeiten, sind ihm Bilder von erstaunlicher Qualität und teilweise faszinierender Schönheit gelungen.

Der Historiker und Geograph Harald Schukraft hat zu den 192 Bildern kurze deutsche Texte verfasst, denen jeweils eine noch kürzere englische und französische Übersetzung folgt. Während die deutschen Bildunterschriften oft interessante Zusatzinformationen enthalten, beschränken sich die fremdsprachlichen Texte auf das Nötigste. Ein Beispiel: Zu einem Bild des Stuttgarter Stadtteils Steinhaldenfeld, einem rechteckigen Areal mit kleinen Häuschen und großen Gärten, erfahren die Leser in allen drei Sprachen, dass arbeitslose Arbeiter zwischen 1932 und 1935 die ganze Siedlung im Eigenbau erstellt haben. Die deutschen Leser erhalten die Zusatzinformation, dass jedes Grundstück ausreichend Platz zur Kleintierhaltung und zum Gemüseanbau hatte und dass die großen Häuserblocks am Rand der Anlage erst 1950 dazu gekommen sind. Schließlich folgt der Hinweis, dass die Ackerflächen im Hintergrund bereits zur Gemarkung Fellbach gehören. Dies dürfte selbst unter den deutschsprachigen Lesern nur die interessieren, die mit den Örtlichkeiten vertraut sind.

Wen will der Verlag also mit diesem Bildband erreichen? Sicherlich auch englisch- oder französischsprachige Touristen, in erster Linie aber die Bewohner der Region selbst. Dafür spricht das gesamte Konzept des Buches. Luftaufnahmen sind nun einmal in der Regel Übersichtsbilder, die auf den Nahblick, auf das Detail verzichten. Das, was Touristen normalerweise sehen wollen, eine Kirche oder ein Museum von innen, ein Denkmal oder ein bekanntes Kunstwerk, ist aus der Vogelperspektive nicht auszumachen. Dem Einheimischen aber, der das alles schon kennt, erschließt der Blick von oben eine ganz neue Dimension des ihm Vertrauten. Er sieht etwa, dass die barocke Schlossanlage Ludwigsburg fast die gleiche Größe hat wie die Stadt, die sich neben dem Schloss ausbreitet und er stellt vielleicht mit Erschrecken fest, wie nahe das Kernkraftwerk Neckarwestheim bei der gleichnamigen Ortschaft liegt.

Der Blick von oben zeigt ihm auch, ob es gelungen ist, neue Büroviertel in ein historisch gewachsenes Stadtbild oder moderne Industrieanlagen in die Landschaft einzufügen. Und er erkennt Bausünden, wie die drei Scheibenhochhäuser der Wohnstadt Asemwald auf der Filderebene oder den phantasielos angelegten Stuttgarter Stadtteil Fasanenhof.

Lehrreich ist der Blick auf die unterschiedlichen Siedlungsformen: Die kreisförmige Anlage des mittelalterlichen Städtchens Markgröningen, die rechteckige Form der modernen Siedlung in Stuttgart-Zuffenhausen, die organisch gewachsene Einzelhausbebauung in Plieningen oder die dicht gedrängt stehenden Giebelhäuser in Leonberg.

So aufschlussreich die Übersichtsbilder sind, der ständige Blick auf Dächer und Straßen wirkt beim Blättern durch die 190 Seiten zunehmend eintönig und ermüdend. Jeder Film, jede Bildreportage lebt von unterschiedlichen Einstellungsgrößen: Totale, Nah- und Detailaufnahmen wechseln sich ab. Der vorliegende Bildband besteht praktisch nur aus Totalen. Nur zweimal gelingt es dem Autor, mit einem extremen Teleobjektiv so nahe an Menschengruppen heranzuzoomen, dass Details erkennbar werden: die Fütterung der Delphine in der Wilhelma und die Besucher auf der Aussichtsplattform des Stuttgarter Fernsehturms. Beide Bilder sind "Hingucker", an denen der Betrachter beim Durchblättern hängen bleibt. Von ihnen hätte man sich mehr gewünscht.

Empfehlenswert machen den Band aber die Aufnahmen, die den Betrachter durch ihre zauberhafte Schönheit und ästhetische Vollkommenheit begeistern. Dazu gehört die Winterlandschaft mit dem mäandernden Bach und den langen Schatten der Pappeln in der tiefstehenden Sonne. Die mehrfach verschlungenen Anschlüsse der Bundesstraße B 27 an die Autobahn bei Echterdingen und Ludwigsburg wirken wie die Gänge eines Borkenkäfers unter der Baumrinde. Einem Gemälde von Caspar David Friedrich gleicht der Blick auf die Burgruine Hohenneuffen und die dahinter liegenden, aus dem Nebel aufsteigenden bewaldeten Hügel. Wie Grafiken erscheinen die Winterbilder vom Ludwigsburger Golfplatz oder von den Gleisanlagen am Stuttgarter Hauptbahnhof.

Der Bildband "Flug über die Region Stuttgart" ist im Silberburg-Verlag Tübingen erschienen und kostet 29,90 € .



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